Der Ohnmacht im Familienalltag mutig begegnen
Mehr als 50 Väter und Mütter aus dem Obersimmental nahmen an der Elternweiterbildung „Raus aus der Ohnmacht – Starke Eltern ohne Gewalt“ vom 20. Oktober im Gemeindesaal Zweisimmen teil. Im gemeinsamen Austausch wurde nach Ideen und Werkzeugen gesucht, wie der erste Schritt hin zu elterlicher Stärke gelingen kann. „Ich wiederhole mich nicht gerne und wenn ich meinem Kind dreimal dasselbe sagen muss, werde ich wütend“, erzählte ein teilnehmender Vater. Kommen Müdigkeit, Stress oder Konflikte dazu, läuft das Fass plötzlich über. Es kann in allen Familien vorkommen, dass Eltern mal eine Grenze überschreiten: In der Not, in der Ohnmacht, in der Überforderung mit der Situation werden Beleidigungen oder Drohungen ausgesprochen oder es folgen sogar Schläge. Danach meist die Reue und Traurigkeit über die eigene Ohnmacht. Doch was können Eltern tun, damit es nicht so weit kommt?
Tankanzeige beachten
„Gute Väter und Mütter sorgen für sich selbst. Nur dann können sie gelassen und entspannt für ihre Kinder da sein“, sagte Simone Wampfler, Regionalleiterin des Schweizerischen Instituts für Gewaltprävention (SIG). Blinkt beim Auto die Tankanzeige rot, wird getankt. Doch was ist mit wichtigen menschlichen Bedürfnissen wie Schlaf, Sicherheit, Liebe und Wertschätzung? Oft ignorieren Eltern diese bei sich selbst so lange, bis sie völlig ausgelaugt sind. Ist der Tank einmal leer, reagieren sie gereizt, sind wütend und gewaltbereiter. „Sind die Bedürfnisse von uns Eltern erfüllt und genährt, haben wir angenehme Gefühle und können die Kinder mit voller Präsenz begleiten“, so Simone Wampfler.
Erziehen ja – aber wie?
In Ratgebern, im Internet oder in Zeitschriften stehen abertausende Erziehungstipps und mögliche Fehler, die Eltern machen können. Welcher ist der Weg, der Wirkung zeigt? Sind es die Schläge, wie früher? Oder ist es die vollkommene Freiheit? Oder doch eher die Freiheit mit klaren Grenzen? Simone Wampfler und Adrian Maurer sind sich einig: Klare Werte der Eltern sind eine Orientierungshilfe im Familienalltag und helfen mit, die Regeln liebevoll und konsequent durchzusetzen. Adrian Maurer, Schulsozialarbeiter der Schulen Zweisimmen und Boltigen, ermutigt die Eltern zu vier wichtigen Werten: Gleichwertigkeit, Schutz der Persönlichkeit, Echtheit und Eigenverantwortlichkeit: „Begegnen sie als Eltern ihren Kindern auf Augenhöhe und nehmen sie Bedürfnisse, Gefühle und Träume ernst. Die Verantwortung und Führung bleibt dabei bei ihnen als Eltern. Dazu gehört auch ein konsequentes und liebevolles Nein.“ Gleichwertigkeit heisst, die Kinder als Menschen ernst zu nehmen. Sie haben jedoch nicht dieselben Rechte, Pflichten und nicht dieselbe Lebenserfahrung, wie die Erwachsenen. Dies ergibt natürlicherweise ein Machtgefälle, mit welchem sorgfältig und respektvoll umgegangen werden sollte.
Aggression vs. Gewalt
Da Gewalt in der Erziehung heute verboten und in der schweizerischen Gesellschaft immer noch ein Tabu ist, wird oftmals bereits Wut und Aggression unterdrückt oder verhindert. Eltern sagen dann zu ihren Kindern: „Du musst jetzt gar nicht wütend sein!“, oder, „Wenn du so aggressiv bist, liebe ich dich nicht mehr!“ Dabei sind Wut und Aggression genauso menschliche Gefühle wie Angst, Trauer oder Freude. „Es ist toll, wenn es zu Wut und Aggression in der Familie kommt. Sie helfen uns, Bedürfnisse zu befriedigen und Ziele zu erreichen. Wie könnte ein Sportler einen Sprint machen, ohne ein gutes Mass an Aggression?“, erläutert Maurer, …und Simone Wampfler ergänzt: „Alle Gefühle sind erlaubt und willkommen, jedoch nicht alle Handlungen.“ Im Austausch erzählte eine Mutter, was sie von der Elternweiterbildung mitnimmt: „Ich habe verstanden, wie wichtig es ist, dass ich oder meine Kinder Wut zeigen und diese zulassen können, damit es nicht zu Gewalt kommt.“
Die Elternweiterbildung wurde durch die Elternmitwirkung Zweisimmen, die Schulsozialarbeit, die Schulleitungen Obersimmental und Simone Wampfler vom SIG organisiert und durchgeführt.
Hilfe holen
Der erste Schritt bei Hilflosigkeit oder Gewalt in der Familie besteht darin, darüber zu sprechen und sich Hilfe zu holen. Sie können sich an folgende Stellen wenden:
INFOBOX – HÄUSLICHE GEWALT
Das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Mann und Frau (EBG) trug in einem im Juli 2023 veröffentlichten Grundlagenbericht die wichtigsten Zahlen zu häuslicher Gewalt zusammen:
- 2022 wurden 19 978 Straftaten im Bereich häusliche Gewalt registriert, darunter 86 versuchte oder vollendete Tötungsdelikte. Die im häuslichen Bereich am häufigsten registrierten Delikte betreffen Tätlichkeiten (6497), Drohungen (4091), Beschimpfung (3766) und einfache Körperverletzung (2167).
- Frauen werden deutlich häufiger als Geschädigte häuslicher Gewalt registriert als Männer. Der Frauenanteil unter den gewaltbetroffenen Personen liegt aktuell bei 70,2 % (2022)
- Mädchen und Jungen sind ungefähr im selben Masse von häuslicher Gewalt mitbetroffen mit 51 bzw. 49 %.
- 62% der Jugendlichen erlebten selber Gewalt oder haben diese bei ihren Eltern miterlebt.